Allgemeines, Aus unserem Alltag

Gefühls-Gießkanne: Wenn große Emotionen überlaufen

Unser großes Fräulein Semmelwolle war schon immer irgendwie anders als andere Kinder. Sie hat als Baby sehr viel geschrien, konnte sehr schlecht einschlafen, wachte sehr oft auf, war nach dem Aufwachen lange Zeit erstmal schlecht gelaunt, mochte monatelang keine Schuhe anziehen, störte sich an jedem Etikett in der Kleidung oder kratzigem Material, war wählerisch beim Essen und schmeckte kleinste Unterschiede in der Zubereitung heraus, roch Dinge, die wir erst Minuten später wahrnehmen konnten, trauert seit nun drei Jahre, weil ein Spatzenküken gestorben ist. Die Aufzählung ließe sich noch ewig fortsetzen.

Je älter sie wurde, desto breiter wurde die Palette der Gefühle und desto größer wurden dementsprechend auch die Gefühlsausbrüche! Wir waren manchmal sehr verzweifelt. Dann haben wir Nora Imlaus Bücher über gefühlsstarke Kinder gelesen und verstanden, warum unser Kind so ist, wie sie ist. Wir konnten es annehmen und mit ihr zusammen daran arbeiten. Wir haben ihr die Gefühlsstärke mit etwa fünf Jahren erklärt und vor allem die positiven Seiten daran hervorgehoben.

Bei der FEBuB19 habe ich Nora Imlaus Vortrag über gefühlsstarke Kinder gehört. Sie hatte für ihr eigenes gefühlsstarkes Kind das Bild der Silvesterrakete, die entweder völlig unkontrolliert laut und grell am Himmel explodiert oder das einer Mondrakete, bei der man die ganze vorhandene Energie nutzen kann, um eine Rakete zum Mond zu steuern. Das gefiel mir, doch das Bild der Rakete sprach das große Fräulein Semmelwolle nicht an.

So haben wir das Bild der Gefühlsgießkanne entwickelt. Diese füllt sich den Tag über durch verschiedene Ereignisse und Erlebnisse. Wir haben mit unserer Tochter gesammelt, was denn ihre Geießkanne füllt:

Lärm, Angst, Streit, wenn jemand NEIN zu ihr sagt, Hunger, Müdigkeit, wenn sie jemanden vermisst, wenn jemand gestorben ist (in unserem Fall hat sie erlebt, dass ein Spatzenküken aus dem Nest gefallen ist, wir versucht haben es aufzupäppeln und es dann doch gestorben ist), wenn sie sich wehtut, schlechte Träume hat, wenn etwas kaputt geht und auch wenn sie wie vor Geburtstagen sehr aufgeregt ist.

Wenn nun die Gießkanne voll ist, reicht ein weiterer Tropfen und sie läuft völlig unkontrolliert aus und verursacht so eine riesige Überschwemmung, die man dann wieder wegputzen muss.
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Doch das muss nicht sein, denn wir können gemeinsam lernen, die Gießkanne rechtzeitig, d.h. wenn sie noch nicht randvoll ist, kontrolliert auszuleeren und mit dem Wasser etwas Gutes zu tun: Blumen gießen und wachsen lassen!
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Wir haben gemeinsam verschiedenste Dinge ausprobiert, die dem großen Fräulein Semmelwolle helfen, damit das klappt. Zunächst einmal musste sie ein Gespür für die Füllhöhe ihrer Gießkanne entwickeln. So frage ich sie immer mal wieder tagsüber, wie voll ihre Gießkanne ist. Bei „leer“ zeigt sie auf ihre Füße, bei halbvoll auf den Bauch, bei randvoll auf den Mund. Ich sage manchmal Sätze wie: „Ich kann mir vorstellen, dass das gerade echt laut für dich war und deine Gießkanne gefüllt hat!“

Wenn sie also rechtzeigt spürt, dass die Gießkanne bald voll ist, hilft Mama-Liebe, es hilft mit Worten zu sagen, was sie gerade fühlt und was sie gerade braucht, es hilft zu toben oder auch mal sich einfach flach auf den Boden zu legen und tief zu atmen. Malen tut ihr ebenso sehr gut. Manchmal ist sie sehr zwiegespalten, wenn die Gefühle sie überrollen. Sie will einerseits in Ruhe gelassen werden, andererseit aber auch nicht allein sein. Wir verbinden uns deshalb in solchen Situationen mit den Fingerspitzen der kleinen Finger ganz behutsam, um auszuprobieren, ob sie schon wieder Nähe zulassen kann. Und ganz wichtig: Unsere Wutkerzen. Wir halten unsere fünf Finger hoch und pusten sie an, als wären es Kerzen, die wir auspusten.

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Wir machen ihr viele dieser Strategien vor, wenn wir selbst wütend werden und so gelingt es ihr immer öfter, sie auch anzuwenden. Teilweise kommt sie zu mir und hält mir ihre Finger zum Pusten hin, wenn sie spürt, dass ich wütend bin.

Das Bild der Gießkanne ist bei uns jeden Tag präsent. Wir sprechen täglich darüber und fragen das große Fräulein Semmelwolle immer wieder, wie voll ihre Gießkanne ist, bieten ihr an sie gemeinsam kontrolliert auszuleeren.

Nun hatte ich das Glück im letzten Jahr mit einem ganz wunderbaren Menschen zusammen zu arbeiten. Eine Grafikdesignerin, deren eigenes Kind auch gefühlsstark ist und die zum Thema gewaltfreie Kommunukation bereit Illustrationen erstellt hat. Wir haben uns viel über Gefühlsstärke ausgetauscht und ich habe ihr von unserem Bild der Gefühls-Gießkanne erzählt. So entstand die Idee, dem großen Fräulein Semmelwolle zum Geburstag ihre Gefühls-Gießkanne als echtes Bild zu schenken. Gemalt von meiner lieben Kollegin! Ich habe zwei Entwürfe gemacht. Einen von den Dingen, die die Gießkanne füllen und wie sie unkontrolliert ausläuft. Den anderen von der kontrolliert ausgeleerten Gießkanne mit all den Strategien, die dabei helfen, das Wasser sinnvoll zu verwenden!

Mit Fotos von Lieblings-Klamotten, wichtigsten Kuscheltieren, Menschen und Gegenständen wurde daraus ein sehr persönliches Bild, das uns so wahnsinnig viel bedeutet, dass ich dafür keine passenden Worte finde!

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7 Gedanken zu „Gefühls-Gießkanne: Wenn große Emotionen überlaufen“

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